DIE ZEIT IST EIN RIESE

Gedanken zu einer Ausstellung von Barbara Nies von Stefan Tolksdorf

Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ Augustinus,( Confessiones)

Bilder
Die Zeit ist ein seltsam Ding, konstatiert die Generalin in Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier
Die Zeit ein Ding?
Wie könnte verdinglichte Zeit - ein Widerspruch an sich - wohl aussehen?
Sicher nicht wie eine Uhr, dieses taugliche Gerät der "bürgerlichen" Zeitvermessung.

Die kosmische Zeit berwährt sie ebenso wenig wie die "innere Zeit" der Mystiker, für die Zeit und Raum zusammen fallen - wie in Einsteins Relativitätstheorie?
Und was hat es mit der Seitens der Quantenphysik häufig vorgebrachten These für sich, Zeit sei vornehmlich ein Wahrnehmungsphänomen, mehr noch: Eine Illusion?

Tickt nicht in jedem von uns, am Spiegel und unter der einschlägigen Zeitungsrubrik ablesbar die innere Uhr? Wie verhält sich die physikalische Negierung des newtonschen Zeitpfeils mit der allgegenwärtigen Erfahrung von Vergänglichkeit.

Das Phänomen "Zeit" scheint unser Vorstellungsvermögen bei weitem zu sprengen. Ein Fall für die Kunst, möchte man meinen - von jeher das Spielfeld des Paradoxen und der verdinglichten Abstrakta.
In der Kunst sind die Versuche, Zeit ins Bild, bzw. ein Bild der Zeit zu setzen Legion - zunächst in allegorischer Form, etwa in Gestalt des Vanitas- Stilllebens, in der Moderne in Bewegungsabläufen und musikalischen Analogien - denken wir etwa an Paul Klees Fugenbilder, Duchamps Akt die Treppe herabsteigend oder an die Simultanbewegungen der Futuristen, in der Zeitkunst des Happenings, in der kinetischen Kunst, bis hin zu den tönenden Zeit-Zeichen eines John Cage.

BilderDie Zeit in der Kunst- das ist ein weites Feld.
Es gemeinsam abzuschreiten würde ihre und meine Zeit sprengen.

"Die Zeit ist ein Riese", sagt die Künstlerin Barbara Nies, die sich dem Thema in vielerlei Gestalt annimmt:
In Papierarbeiten, Objekten und in einer Malerei zwischen Gegenständlichkeit und purer Farbdynamik.

"Die Zeit ist ein Riese" - der Titel eines Bildes, in dem sich eine amorphe orange Struktur auswächst, bedrohlich oder bergend - das liegt im Auge des Betrachters.
Wir sind nicht Herr der Zeit, sie wächst förmlich auf uns zu, droht uns mit ihrer Übermacht.

Wer kennt nicht diesen Zustand der Überwältigung - sei es von den Zeitläuften, sei es vom Gefühl des Lebenszeit-Verlustes, oder ein einschneidendes, Augen und Sinne öffnendes Erlebnis, eines Schicksalsschlags zumal, der die Dimension der Zeit - und der eigenen Winzigkeit ihr gegenüber erst zu Bewusstsein bringt.

Auch jene zwei "Giganten" Francesco Goyas kommen in den Sinn, von denen einer gegen einen unsichtbaren Gegner an zu boxen scheint, und In der Landschaft unter ihm setzt sich ein Flüchtlingstreck in Gang. Doch vor der alles zermalmenden Zeit - so sie der Maler denn gemeint hat - gibt es kein Entkommen.

Barbara Nies "Zeit-Riese" in Acryl ist dagegen kein Erzähl- sondern ein Farbereignis - das seine Wucht selbst bei längerer Betrachtung nicht verliert. Leider ist das Bild unverkäuflich. Das Phänomen "Zeit" beschäftigt die Künstlerin schon deshalb, weil sie auf unterschiedlichen Gestaltungsebenen von jeher seriell arbeitet.

Im Medium der Fotografie erscheint der Zeitverlauf per se gestoppt, der Augenblick eingefroren im "nunc stans". Eine Abfolge von Fotografien evoziert ein rhythmisches Staccato, das dem Eindruck des gleichmässigen Zeit-Flusses zuwider läuft, der physikalisch übrigens bis heute unbeschreiblich bleibt.

Da ist etwa die Serie mit dem Gesicht ihres Sohnes - Erinnerungslichter eines überlebten Gemütszustandes. In ihrem Video "suitcase of memories" präsentiert uns Barbara Nies in unterschiedlichen Intervallen eine Abfolge von Fotos - Portraits zumeist - in ausdrucksstarken Zweiergruppen. Fotos unterschiedlichster Provenienz, vom Porno bis zum Zeitungsbild, auch Flohmarkt-Trouvaillen: Erinnerungsbeladene und zugleich anonyme objets trouvés, mehr oder minder zufällig aus dem biographischen und historischen Zeitfluss geklaubt - jedes von der Prägnanz von Déja-vues.

Ja, ein unweigerlich vages Bekanntheitsgefühl stellt sich ein vor diesen namenlosen Inseln des archivierten Erinnerns.
Unterschiedliche Altersstufen und Gefühlszustände tauchen aus dem schwarz-weißen Bewusstseinsstrom und - eben hat man sie realisiert - wieder darin unter. Die Gesichter führen Augenblickskorrespondenzen, nehmen sekundenlang Kontakt auf zum Betrachter oder bleiben ganz für sich: Flashbacks aus dem Fluss des Lebens der anderen.

In uns allen tickt unbarmherzig die innere Uhr, die Zeit ist aber auch eine Bewusstseinskategorie - ereignissatte Tage vergehen bekanntlich schneller als ereignislose, Schulstunden schienen sich endlos zu dehnen - und es gibt den sinnerfüllten Augenblick zu dem man sagen möchte: Verweile doch, du bist so schön!

Einen solchen kontemplativen Augenblick verlangsamter Zeit evoziert Barbara Nies in ihrem zweiten Video:
Wehender Bambus mit der Projektion eines Wassers, in das fallende Regentropfen konzentrische Kreise setzen.

Davor im Wind pendelnde gespensterhafte Fahnen - so genannte Luftschiffe, wie sie in Barbara Nies ´ Oeuvre immer wieder auftauchen. Ein Anhauch von Weiß und Grün, ein bewegtes, in der Wiederholung zugleich beruhigendes Bild, bei dessen Betrachtung man mitunter die Zeit vergisst. Daneben, auf einem dritten Bildschirm die pure Bewegung: Vorwärtsstrebende Beine - aus einem historischen Film über New York - die City am "Puls der Zeit".

Die schwarzweißen Beine längst Verstorbener, unter den bunten Körpern von "Zeitgenossen" in derselben zielgerichteten Bewegung, die das Leben ist - hin auf den Tod. Schlimmer als das Bild vom alles nivellierenden Fluss der Zeit, ist der Gedanke aus der zugewiesenen Spanne "nichts gemacht", seine Zeit nicht sinnvoll gefüllt, mit Entschiedenheit ihr etwas (vorerst) Bleibendes abgetrotzt zu haben - nutzlos vertane,"leere" Zeit.

Demgegenüber inszeniert Barbara Nies in ihren Mischtechniken den Prozess des Erinnerns:
Gesichter tauchen lemurenhaft aus dem Nebel der Vergangenheit; erst der versenkende Blick verleiht ihnen Tiefenschärfe.

Das Verfahren der Palimpsest-haften Schichtung hat sein Äquivalent in der Funktion unseres Gedächtnisses. Die Archäologie des Erinnerns ist ein zentrales Thema in Barbara Nies' Werk. Leiterartige Dachverkleidungen aus Metall nehmen den Charakter von "Erinnerungsspeichern" an, archetypischen Bildarchiven, aus denen sich der Betrachter bedienen, die er nach Belieben variieren kann.
Das Spektrum der Gemütszustände quer durch alle Lebensalter ist dabei immens.

Eine gewollte Beliebigkeit wohnt diesen Bild-Installationen inne - in Stahlrinnen und auf Notenständern präsentiert sich der fotografische Fundus - Notationen des Lebens. Vergleichsweise archaisch muten die zeltartigen Installationen aus Leinwand und Holz an - notdürftige Wehr gegen die Unbilden der Zeit.

Man fühlt sich an steinzeitliche Wohnstätten erinnert - provisorische Vorläufer des Hauses, wie es als unsicheres, mit seiner Farbumgebung verschmelzendes Zeichen ersehnter Konstanz auf den großen Acrylbildern der Künstlerin immer wieder in Frage gestellt wird. Nein, die festeste Wohnstatt hält dem Zugriff der Zeit nicht stand. Das Signum des rechten Umgangs mit ihr scheint das Segel zu sein, das sich als "Luftschiff" dem Sog der Zeit leichthin anvertraut.

Am Ende dieser rudimentären Betrachtungen sollen zwei Strophen eines Gedichts von Rainer Maria Rilke stehen, das den Zeitflüchtigen Mut macht:

Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit, nehmt ihn als Kleinigkeit im immer Bleibenden.
Alles das Eilende wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende erst weiht uns ein. ...